Turturro
Ich hörte ihm eine Weile zu, und als ich nach einer halben Viertelstunde genug hatte von den ständigen Wiederholungen und den läppischen Gebärden, die er vor dem Spiegel einstudierte, entschloss ich mich, kurz, aber kräftig an die Scheibe zu klopfen. Er verstummte und drehte sich überrascht um, um vor Schreck einen Schrei von sich zu geben und gleich wieder zu verstummen. Wie angewurzelt stand er vor dem Spiegel, ich winkte ihm zu und grinste, mir gefiel, wie er so totenbleich dastand. Es verging eine Minute, ihm stockte der Atem, er verharrte vor dem Spiegel und starrte mich zitternd an. Dann machte er langsam und vorsichtig einige Schritte auf mich zu, um bei der Sitzgruppe stehen zu bleiben – seine Finger umklammerten die Lehne eines Sessels, seine Barthaare sträubten sich, das große Maul hatte er weit aufgerissen, ohne einen Laut herauszubringen. Schließlich ließ er den Sessel los, wagte aber nicht, den Blick von mir zu wenden, wie in Zeitlupe kam er auf mich zu, zwei oder drei Meter noch war er entfernt, da stolperte er über eine Unebenheit des Teppichs und stürzte unmittelbar vor der Balkontür zu Boden. Er blieb liegen, und ich verschwand, fürs erste schien er mir genug bestraft, denn er fiel die ganze Woche über aus, er hatte sich den Knöchel verstaucht.
In der Folge ließ ich Carlotti seinen Knöchel kurieren und wieder Sicherheit gewinnen, er sollte sich nicht allzuviele Gedanken über den Vorfall machen und das Ganze als Halluzination abtun, um bei meinem nächsten Erscheinen um so heftiger zu erschrecken. Ich wartete also eine Weile, und in der Tat war dies die schlimmste Zeit, diese Zeit des Wartens, die ich aus meiner Zeit als Verehrer nur zu gut kannte.
… ich wollte ihm ein wenig auf den Zahn fühlen, schließlich ging es um Gerechtigkeit und meine Ruhe, die ich nicht finden konnte, solange dieser Kerl nicht aus Alexias Leben verschwunden war.
Dann schlug ich ein zweites Mal zu, das Unrecht war noch nicht gesühnt, ich hatte die Ruhe noch nicht gefunden, dorthin zurückzukehren, wohin ich zurückkehren musste, noch war ich ein Getriebener, der nach Rache lechzt, und so drängte es mich wieder in Carlottis Leben. Diesmal blieb ich nicht auf dem Balkon seiner Suite, und ich klopfte auch nicht an das Fenster oder die Tür, sondern saß still und mit übereinandergeschlagenen Beinen im Sessel, während er mit dem Rücken zu mir vor dem Spiegel übte und mich nicht sah, nicht sehen konnte. Ich lauschte also wieder seinem Gesang, seinem Belcanto, ich glaube, er sang den Rubini aus Bellinis Puritani, und ich muss zugeben, er sang nicht schlecht, auch wenn mir nicht verborgen blieb, dass er das hohe C nicht mit der Kopfstimme, sondern bloß mit einer kleinen Gaunerei erstieg, mit Hilfe eines eunuchal klingenden Fisteltons. Sogleich kam mir der Gedanke, ob er vielleicht ein Kastrat war und mein Tod damit sinnlos und umsonst, aber dann sang er wieder so, wie ein Eunuch niemals singen würde, was mich beruhigte: Mein Tod war kein sinnloser Tod gewesen. Ich sah ihm zu, wie er sich räusperte und innehielt und ins Bad ging, um zu gurgeln, und als er mit einem Glas in der Hand zurückkam, entdeckte er mich und erschrak. Ich winkte ihm zu und grinste, und wieder war, wie beim ersten Mal, Entsetzen in seinen Augen, aber diesmal verschwand ich nicht, sondern blieb im Sessel sitzen, ich wollte ihm ein wenig auf den Zahn fühlen, schließlich ging es um Gerechtigkeit und meine Ruhe, die ich nicht finden konnte, solange dieser Kerl nicht aus Alexias Leben verschwunden war.
Aber ich hatte Pech oder Glück oder beides zugleich: Carlotti stürzte auf der Stelle zu Boden und ließ auch das Glas fallen, das er in der Hand hielt – es war Eiweiß darin, schleimiges Eiweiß –, aber diesmal stürzte er nicht über eine Unebenheit des Teppichs, sondern von alleine, er brach zusammen und tat keinen Wank. Als ich zu ihm trat und ihn leicht am Arm schüttelte, reagierte er nicht, und als ich seinen Puls fühlte, war nichts zu spüren. Ich muss gestehen, dass ich erschrak, so weit hatte ich es nicht treiben wollen, was konnte er dafür, dass Alexia war, wie sie war. Sofort schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass auch Carlotti ein Gespenst werden würde, sein Tod war unpassend und idiotisch, er würde umherirren und sich rächen wollen, Gespenst erscheint Gespenst. Um seine Ruhe nicht zu stören, ließ ich ihn gleich los, ich ließ ihn liegen und verschwand durch die Scheibe auf den Balkon, ins Freie.
Danach fühlte ich, dass ein Teil des Unrechts gesühnt war, nicht das ganze, aber ich war jetzt ein wenig gelassener, trotz der Aufregung um den Toten, der kein Eunuch gewesen war, wie ich geglaubt hatte, zu deutlich die Beule in den Hosen, das Glied, das nun für immer steif bliebe. Aber um endgültig meine Ruhe zu finden, musste ich unbedingt Alexia meine Aufwartung machen, musste mir Klarheit verschaffen, warum sie mich verschmäht hatte. Mir wurde bewusst, dass meine Konzentration auf Carlotti im Grunde widersinnig gewesen war, genauso widersinnig wie sein Tod. Ich ahnte, dass ich sie rasch sehen musste, wenn Carlotti ein Gespenst würde, könnte es schwierig werden.
I listened to him for awhile, and when, after seven or eight minutes, I had had enough of the endless repetitions and ridiculous gestures he rehearsed in front of the mirror, I decided to give the windowpane a quick but powerful knock. He fell silent and turned around in surprise, cried out in terror and then fell silent again. He stood in front of the mirror as if glued to the spot, I waved at him and grinned, I liked how he stood there, pale as death. A minute passed, his breathing faltered, he stayed there in front of the mirror and stared at me, trembling. Then he took a few slow and careful steps toward me, only to stop at the living room suite — his fingers clutched the back of an armchair, his beard hair bristled, his large mouth had fallen wide open but didn’t produce a sound. Finally he let go of the chair, but he didn’t dare take his eyes off me, as if in slow-motion he approached me, he was still two or three meters away from me when he tripped over a bump in the carpet and fell to the ground right in front of the balcony door. He lay there and I disappeared, it seemed to me he had been punished enough for now, because he was sidelined for the whole week, he had sprained an ankle.
After that I let Carlotti nurse his ankle and regain his calm, so that he wouldn’t give the incident too much thought and would dismiss the whole thing as a hallucination, so that his fear would be even more intense at my next appearance. So I waited awhile, and in fact this was the hardest time, this time of waiting, which I knew only too well from my time as an admirer.
… I wanted to make him sweat a little, at stake, in the end, was justice and the peace that I could not find as long as this guy had not disappeared from Alexia’s life.
Then I struck a second time, the injustice was not yet atoned for, I had not yet found the peace to return to that place where I had to return, I was still driven by a lust for revenge, and so I was thrust back into Carlotti’s life. This time I didn’t stay on the balcony of his suite, and I didn’t knock on the window or the door, rather I sat silently with my legs crossed in the armchair while he practiced in front of the mirror with his back to me and didn’t see me, couldn’t see me. I listened again to his singing, his bel canto, I believe he sang Rubini from Bellini’s Puritani, and I have to admit that it wasn’t bad, even if it didn’t go unnoticed that he hit the high C not in the head register but only by means of a little trick, with the help of a eunuch-like falsetto. Instantly the thought occurred to me that he might be a castrato and my death thus meaningless and in vain, but then he sang again as a eunuch would never sing, and that reassured me: my death had not been a meaningless death. I watched him as he cleared his throat and paused for a moment, then went into the bathroom to gargle, and as he was coming back with a glass in his hand he discovered me and was frightened. I waved at him and grinned, and again, like the first time, there was horror in his eyes, but this time I didn’t disappear but rather stayed seated in the armchair, I wanted to make him sweat a little, at stake, in the end, was justice and the peace that I could not find as long as this guy had not disappeared from Alexia’s life.
But I had bad luck, or good, or both at once: Carlotti fell to the ground then and there and also dropped the glass he held in his hand — there was egg white in it, slimy egg white — but this time he fell not over a bump in the carpet, but rather all on his own, he collapsed and then didn’t move a muscle. When I walked over to him and shook him gently by the arm he didn’t react, and when I checked his pulse there was nothing to feel. I have to admit that I was frightened, I hadn’t meant to take it this far, what could he do about it that Alexia was the way she was. Immediately the thought shot through my head that Carlotti too would become a ghost, his death was untimely and idiotic, he would wander around and seek revenge, ghost appearing to ghost. So as not to disturb his peace I let go of him right away, I let him lie there and disappeared through the windowpane onto the balcony, into the open air.
Afterwards I felt that a part of the injustice had been atoned for, not the whole thing, but now I was a little calmer, despite the agitation over the dead man, who had not been a eunuch as I had thought, too obvious the bulge in his pants, the member that would now forever remain erect. But to find my peace for good, I needed at all costs to pay a visit to Alexia, needed to get some clarity as to why she had spurned me. I realized that my concentration on Carlotti had been basically absurd, just as absurd as his death. I sensed that I would have to see her soon, if Carlotti became a ghost, things could get difficult.
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